Die Zweite Stufe – Ist das Geheimnis gelüftet?

Der zentrale Punkt in der Debatte, ob Mallory & Irvine 1924 den Gipfel erreicht haben könnten, ist die Frage, ob sie die Schlüsselstelle am Nordostgrat klettern konnten – die Zweite Stufe auf ca. 8600 m.

Die Zweite Stufe
© Theo Fritsche; aus “Tatort Mount Everest”, S. 157

Die Debatte wird ausgiebig in der Bergliteratur (z.B. in meinen Büchern Detectives on Everest, S. 123f., und Tatort Mount Everest, S. 173-185) und im Internet behandelt, weshalb hier nur auf grundlegende Fakten eingegangen wird:

  • Berichten zufolge wurde die Schlusswand der Zweiten Stufe inzwischen viermal (4x) „frei“ geklettert, d.h. ohne Benutzung der von den Chinesen 1975 angebrachten Leiter und damit   unter ähnlichen Bedingungen wie beim Versuch von Mallory & Irvine 1924:

– durch den Katalanen Oscar Cadiach 1985 (Vorstieg mit Seilsicherung)
– durch den Österreicher Theo Fritsche 2001 (seilfreier Alleingang – free solo)
– durch den Russen Nickolay Totmjanin 2003 (Details unbekannt)
– durch den Amerikaner Conrad Anker und den Engländer Leo Houlding 2007 (gesichertes Klettern in Seilschaft)

Die Schlusswand der Zweiten Stufe
© Theo Fritsche; aus “Tatort Mount Everest”, S. 175

Von den ersten drei Durchsteigungen existieren nur mündliche Berichte (wobei Totmjanin wahrscheinlich zahlreiche Augenzeugen hatte), während die vierte Begehung durch Anker & Houlding ausgiebig durch Fotos und Filmaufnahmen dokumentiert ist

  • Cadiach bewertete die Schlüsselpassage der Schlusswand mit UIAA V+ (USA 5.7-5.8); Fritsche zwischen IV+ und V- (5.6), wobei die letzten Züge im Bereich V+ (5.8) lagen; Conrad Anker gab Bewertungen zwischen V+ und VI+ (5.8-5.10) ab, während Leo Houlding die Stelle nach seinem Nachstieg mit VI (5.9) bewertete. Von Totmjanin ist keine Bewertung überliefert.

Jeder Bergsteiger, dem eine freie Durchsteigung der Zweiten Stufe gelang, äußerte sich anschließend optimistisch über die Chancen, dass Mallory & Irvine die Stelle 1924 hätten bewältigen können. Doch so verlockend diese Aussagen auch sind, sie können kaum als „Beweis“ gelten – sie zeigen einzig und allein, dass die fraglichen fünf Bergsteiger fähig waren, die Zweite Stufe unter Bedingungen zu klettern, die jenen von 1924 ähnelten.

Ein endgültiger Beweis für eine erfolgreiche Durchsteigung durch Mallory & Irvine könnte nur durch die Entdeckung konkreter Spuren oberhalb der Zweiten Stufe oder durch ein Foto aus einer ihrer Kameras erbracht werden, welches das Gelände oberhalb der Zweiten Stufe zeigt.

Im Herbst 2010 hatte ich die Gelegenheit (zusammen mit zwei Arbeitskollegen) den Film The Wildest Dream zu sehen, der die freie Durchsteigung der Zweiten Stufe durch Conrad Anker und Leo Houlding beinhaltet.

Als wir die entsprechenden Filmszenen sahen, waren wir einhellig überrascht – ja geradezu schockiert – wie täuschend einfach die Schlüsselstelle im Film wirkt. Die Passage ist nur vier oder fünf Züge lang (was auch ein Foto im Begleitbuch des Films belegt; zwischen S. 152-153), der Fels weist schmale, gute Griffe auf und ist anscheinend sogar nicht ganz senkrecht. Anker konnte einen „no-hand-rest“ einlegen, bevor er auf das Band am oberen Ende der Passage ausstieg.

Nach der Betrachtung der Szenen von Ankers freier Durchsteigung der Zweiten Stufe schien es plötzlich nicht so weit hergeholt, dass Odell Mallory & Irvine tatsächlich dabei gesichtet hatte, wie sie die Schlusswand der Zweiten Stufe „with alacrity“ – mit Schnelligkeit – und innerhalb des Zeitrahmens seiner Sichtung durchkletterten.

Dazu auch die Meinung meines Expeditionskollegen Jake Norton, der die Zweite Stufe aus eigener Erfahrung kennt: http://mountainworldproductions.com/wp/2011/03/george-mallory-and-the-second-step-a-red-herring.html

[Ich erinnere] an die oft vergessene, aber einst sehr beliebte Technik der courte-échelle. Dabei stand ein Vorsteiger auf den Schultern – oder sogar dem Kopf – seines Partners, um eine kurze aber schwierige Felspassage zu überwinden. […] Das Foto [der Zweiten Stufe] von 1999, das ich kürzlich wieder fand, zeigt ziemlich eindeutig: Wäre Dave Hahn bis zum oberen Rand des Schneebandes aufgestiegen und hätte Conrad Anker eine courte-échelle angeboten, wäre Conrad in der Lage gewesen, die leichteren Felsen der oberen Zweiten Stufe zu erreichen und sich auf den Gipfel [der Stufe] hinaufzuziehen. […] Dies ist genau das, was Qu Yinhua während der chinesischen Expedition 1960 tat. Und ich glaube, es ist wahrscheinlich auch das, was George Mallory und Andrew Irvine am 8. Juni 1924 taten.

Eine freie Durchsteigung der Zweiten Stufe ist zwar eine erstaunliche, beeindruckende Leistung – aber für die Fragen um Mallorys und Irvines Gipfelversuch 1924 ist sie vielleicht nicht relevant.“