Jenseits der Zweiten Stufe – Hypothesen und Betrachtungen

Mallorys Armbanduhr

1999 äußerte der britische Bergsteiger und Filmemacher Jim Curran folgende Hypothese zu Mallorys Armbanduhr, die später von dem Autor Charles Lind in seinem Roman An Afterclap of Fate (S. 108) erweitert wurde:

„Als Mallorys Leiche entdeckt wurde, fand man seine Armbanduhr in einer seiner Taschen. Das Uhrglas fehlte, der Minutenzeiger war abgebrochen und fehlte ebenfalls. Es war ziemlich offensichtlich, dass die Uhr abgenommen und in die Tasche gesteckt wurde, nachdem sie beschädigt worden war. In der Tasche fanden sich keine Spuren des Glases. Mallory trug seine Armbanduhr an seinem linken Handgelenk, mit dem Gehäuse auf der Innenseite. Die Beschädigung stimmt perfekt mit dem überein, was passiert wäre, wenn er vergessen hätte, die Uhr auszuziehen und den Arm in einem Riss verklemmte. […] Man beachte zudem, dass die Uhr sorgfältig abgenommen und in seiner Tasche verstaut worden war. Das Uhrenarmband ist schmal und die Schnalle klein. Zum Abnehmen musste man die warmen Überhandschuhe ausziehen und die bloßen Finger benutzen. Dies wiederum bedingt, dass Mallory zu diesem Zeitpunkt noch in einem ausreichend wachen und funktionierendem Geisteszustand war, um darauf zu achten. Und er musste die Zeit dazu gehabt haben. […] Du fummelst nicht mit deiner Armbanduhr in einem Schneesturm herum [der zwischen 14 und 16 Uhr über den Everest hereinbrach; Anm. JH], und auch nicht nach 16 Uhr, wenn du erschöpft und jede verbleibende Minute Tageslicht wertvoll ist. […] Dies unterstreicht das Argument, dass die Uhr während der Risskletterei an der Zweiten Stufe beschädigt wurde.

Mallorys Armbanduhr
© Rick Reanier/Jochen Hemmleb

Aufgrund eines Fotos von 1999 aus Lager 5, welches den heute nicht mehr vorhandenen Rest des Stundenzeigers zeigt, und Metallresten, die ich lange Zeit für Stümpfe beider Zeiger hielt, leitete ich ab, dass die Armbanduhr um 12.52 oder 12.53 Uhr stehen geblieben war. – genau zu der Zeit, als Odell Mallory & Irvine eine Felsstufe überklettern sah, die er, Odell, stets für die Zweite Stufe gehalten hatte.

Uhrexperten haben aber inzwischen überzeugend dargelegt, dass es sich bei den Metallresten nicht um die Stümpfe beider Zeiger handelt. Demnach liefern die einzigen Hinweise auf die Zeit, an der die Uhr stehen blieb, die Rostflecken auf dem Zifferblatt. Da die Position des Stundenzeigers bekannt ist (s.o.), ergibt sich daraus die Uhrzeit 1.27 – was mit der von Lind postulierten Rast oberhalb der Zweiten Stufe in Einklang wäre.

Eine letzte Flasche Sauerstoff?

Hätten Mallory & Irvine tatsächlich gegen 13 Uhr die Zweite Stufe überwunden, wäre zu diesem Zeitpunkt ihr zweites Paar Sauerstoffflaschen zur Neige gegangen. Mallorys erwähnte Notizen auf dem Briefumschlag (siehe 3.3) legen nahe, dass er und Irvine mit insgesamt fünf (5) Sauerstoffflaschen zum Gipfel aufgebrochen waren.

Damit hätte ihnen zum Zeitpunkt einer (hypothetischen) Rast auf dem Plateau oberhalb der Zweiten Stufe noch eine (1) volle Flasche Sauerstoff zur Verfügung gestanden.

Ein überzähliger Schlafsack?

Der australische Everest-Forscher Phil Summers wies darauf hin, dass die bei Mallorys Leiche gefundene Ausrüstungsliste für den Gipfelversuch (siehe 3.3) unter anderem auch „1 sahib bag + mattress“ (1 Schlafsack und Isoliermatte für Bergsteiger) und „1 coolie bag“ (Schlafsack für Träger). beinhaltet. Wozu, wenn L 5 und L 6 bereits mit Schlafsäcken und Isoliermatten bestückt waren.

Der Bergsteiger-Schlafsack (und die Matte) mag dazu gedient haben, den Schlafsack von Norton in L 6 zu ersetzen, der durch eine ausgelaufene Thermosflasche durchfeuchtet worden war. Aber der Verwendungszweck des weiteren Träger-Schlafsacks ist ungeklärt.

Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass der Chinese Xu Jing, der 1960 aller Wahrscheinlichkeit nach die Leiche Andrew Irvines am Nordostgrat in 8440 m Höhe fand (siehe meine Bücher Detectives on Everest, S. 183-186, und Tatort Mount Everest, S. 16-18, 189-194 u. 222-225), mehrfach behauptete, der Tote habe in einem Schlafsack gelegen – obwohl generell angenommen wird, dass Mallory und Irvine aus Gewichtsgründen keinen (Not-?) Schlafsack auf ihren Gipfelversuch mitgenommen hätten. Mit 6 Pfund war das Gewicht eines Träger-Schlafsack geringer als das einer vollen Sauerstoffflasche (8 Pfund).

Der Sturm

Eine neuer Studie der Wettersituation am Everest im Juni 1924 (Moore, K.G.W. et al., “Mallory and Irvine on Mount Everest: Did extreme weather play a role in their disappearance?”, Weather, vol 65, 8, August 2010) und Interviews mit dem österreichischen Meteorologen Karl „Charly“ Gabl für die Fernsehdokumentation Erster auf dem Everest (ORF, 2011) demonstrierten, dass Mallory & Irvine während ihres Gipfelaufstiegs am 8. Juni 1924 in einen aufziehenden Tiefdrucktrog hineinkletterten.

In der Anfangsphase ihres Aufstiegs waren Mallory & Irvine vor dem Wind geschützt, da das Tiefdruckgebiet von SW heranzog. Mit dem Durchzug des Trogs änderte sich jedoch die Windrichtung und Mallory & Irvine waren dem Sturm voll ausgesetzt. Neben einer Verschlechterung der Bedingungen am Berg (zunehmender Wind, Niederschlag, Temperaturabfall) führte der Trog auch zu einem bedeutenden Luftdruckabfall, der die Sauerstoffknappheit nach dem Aufbrauchen des Flaschensauerstoffs noch verstärkt hätte.

In einem weiteren Interview beschrieb der bekannte Höhenmediziner Prof. Dr. Oswald Oelz die Auswirkungen:

„Wenn man bis in eine gewisse Höhe mit Sauerstoff geklettert ist und dann ist der Sauerstoff aus, dann ist das Ende Feuer. Dann kommt man nicht mehr weiter.“