Kommentar zur Sauerstofffrage

Ein Bewertung der Chancen von Mallory & Irvine, den Gipfel erreicht zu haben, hängt zu einem wesentlichen Teil vom Sauerstoffvorrat ab, der ihnen zur Verfügung stand.

Nach seinem Entschluss, einen weiteren Versuch mit Sauerstoff durchzuführen, waren Mallory & Irvine am 4. Juni ins L 4 aufgestiegen. Dabei hielten sie an einem Depot an, um eine nicht genannte Anzahl von Sauerstoffflaschen auszuwählen (Irvine, S. 111). Es ist nicht bekannt, wie viele Flaschen sie selbst trugen – wahrscheinlich insgesamt 2 oder 4. Es ist auch nicht bekannt, ob die beiden sie begleitenden Träger ebenfalls ein Sauerstoffgerät und Flaschen trugen.

Die aus dem Depot ausgewählten Flaschen wurden am 5. Juni von fünf Trägern ins L 4 transportiert (siehe L4 Logbuch und die unter 1. zitierte Nachricht von G. Bruce). Aufgrund deren Gewicht und der Beschränkung einer Trägerlast dürfte kein Träger mehr als 3 Flaschen getragen haben, wodurch die Gesamtzahl 15 oder weniger betrug.

Die letzte Aufnahme von Mallory & Irvine beim Verlassen des Nordsattels am 6. Juni zeigt beide Bergsteiger beim Tragen eines Sauerstoffgeräts. Odell schrieb, dass beide jeweils 2 Flaschen trugen, obwohl in der Aufnahme bei Mallory nur eine Flasche eindeutig erkennbar ist. Die Lasten der Träger umfassten laut Norton (Norton 4, S. 125) Schlafsäcke und Isoliermatten, Essensvorräte und weitere Sauerstoffflaschen. Dies wird durch eine weitere Notiz bestätigt, die 1999 bei Mallorys Leiche gefunden wurde. Unter den aufgelisteten Gegenständen befinden sich 6 Sauerstoffflaschen.

Vier (4) Träger begleiteten Mallory & Irvine bei ihrem Aufstieg von L 5 nach L 6 am 7. Juni. Oberhalb von L 4 war eine Trägerlast auf 9 kg beschränkt (20 Pfund; siehe Norton 4, S. 102) – so dass keiner der Träger wahrscheinlich mehr als 2 Flaschen trug (16 Pfund). Die Tragekapazität der Partie entspricht somit annähernd der Last, die auf Mallorys Notiz aufgeführt ist: 3 Träger für 6 Sauerstoffflaschen plus 1 Träger für Essensvorräte und andere Ausrüstung aus L 5. Maximal konnten die Träger insgesamt 8 Sauerstoffflaschen getragen haben, was 16 Pfund für weitere Ausrüstung und Verpflegung übrig gelassen hätte.

Damit waren die wesentlichen Punkte von Mallorys Plan, den er zuvor mit Norton diskutiert hatte (siehe 3.2) erfüllt: Die Träger hatten eine größtmögliche Anzahl Sauerstoffflaschen ins L 6 transportiert – 6 oder vielleicht sogar 8 -, und Mallory & Irvine hatten bis L 6 „praktisch keinen Sauerstoff“ benutzt – jeweils 3/4 einer Flasche. Da Mallory & Irvine selbst zusammen 3 oder vier Flaschen getragen hatten, fügte dies 1 oder 2 weitere Flaschen zu dem Gesamtvorrat in L 6 hinzu.

Ein Gesamtvorrat von 8 bis 10 Flaschen wäre ausreichend für einen Gipfelaufstieg mit der maximalen Flaschenzahl gewesen: 3 Flaschen pro Bergsteiger. Selbst dann hätten sie noch immer 1 Flasche pro Person zum Schlafen oder als Ersatz für undichte Flaschen gehabt.

Aber der Aufstieg ins L 6 mit nur wenig Sauerstoff und das Tragen von 2 Flaschen ließ Mallory zwei Schlussfolgerungen ziehen, die Auswirkungen auf seine Pläne für den Gipfelaufstieg hatten, welche er in seiner Nachricht an Odell festhielt (siehe 3.):

  • a) in dieser Höhe waren selbst 2 Flaschen „eine höllische Last zum Klettern“
  • b) da es ihnen gelungen war, mit nur wenig Sauerstoff ins L 6 aufzusteigen, konnten sie Gewicht sparen und „wahrscheinlich mit 2 Flaschen gehen“ statt mit 3

Bis heute wissen wir ungefähr, wie viele Flaschen Mallory & Irvine vor ihrem Gipfeltag in L 6 zur Verfügung gestanden hatten. Und Mallorys Nachricht an Odell deutet an, wie viele Flaschen sie „wahrscheinlich“ beim Gipfelaufstieg benutzten.

Wir wissen bislang allerdings nicht, wie viele Flaschen Mallory & Irvine am Ende tatsächlich mit sich führten. Allerdings notierte Mallory irgendwann während des Aufstiegs ins L 6 die Nummern und entsprechenden Fülldrücke von fünf (5) Sauerstoffflaschen auf einem Briefumschlag, der 1999 bei seiner Leiche gefunden wurde.

Mallorys Sauerstoffnotizen auf dem Briefumschlag © Mallory & Irvine Research Expedition; aus “Ghosts of Everest”, S. 162

Diese Daten sagten Mallory, wie lange jede dieser Flaschen reichen würde.

Fünf Flaschen sind höchstwahrscheinlich zu wenige, um sich auf jene zu beziehen, welche Mallory am 4. Juni aus dem Depot am Fuß des Nordsattels ausgewählt hatte. Die Anzahl stimmt auch nicht mit jener in der späteren Last der Träger überein (6). Und es ist möglicherweise von Bedeutung, dass Mallory diese wichtigen Daten auf dem Umschlag eines persönlichen Briefs notierte, den er mit sich trug – und nicht wie seine anderen Notizen auf einer Seite seines Tagebuchs.

Der schlussendlich stärkste Beleg, dass sich die fünf auf dem Briefumschlag notierten Flaschen sich auf den Vorrat für den Gipfelaufstieg bezogen, ist die Tatsache, dass eine der aufgeführten Flaschen – Nr. 9 – 1999 hoch oben am Nordostgrat auf 8475 m Höhe gefunden wurde.

War Mallory am Gipfeltag einen Kompromiss eingegangen und ließ Irvine 3 Flaschen tragen, während er selbst nur 2 trug – so wie er es in seiner Nachricht an Odell angedeutet hatte?

Und welche Rückschlüsse lässt dies auf Mallorys Planungen zu, wenn diese Taktik bedeutete, dass am Ende den zwei Bergsteigern nur noch eine volle Flasche Sauerstoff zur Verfügung stehen würde?

War Irvine mehr die Funktion eines Trägers zugekommen – und hatte Mallory auf der letzten Etappe die Möglichkeit eines Alleingangs ins Auge gefasst?