8. Juni 1924

Der Aufstieg von Mallory & Irvine bis 8500 m

Mallory & Irvine verließen L 6 irgendwann am Morgen des 8. Juni 1924 in Richtung Gipfel. Obwohl Mallory dem Fotograf John Noel geschrieben hatte (in seiner Nachricht vom Vortag; siehe 3. und 3.1), sie hätten vor, „früh“ aufzubrechen, wissen wir jedoch nicht, ob sie dies tatsächlich taten. Folgende Punkte sollten dabei berücksichtigt werden:

  • Norton & Somervell hatten ursprünglich geplant, um 5.30 Uhr von L 6 zu starten. Wahrscheinlich wäre ihnen dies auch gelungen, wenn sich ihr Aufbruch nicht durch eine ausgelaufene Thermosflasche verzögert hätte, weshalb sie erst wieder Schnee schmelzen mussten. Beide verließen das Lager schließlich um 6.40 Uhr.
  • Keine der Gipfelseilschaften während der britischen Vorkriegsexpeditionen schaffte es, früher als 5.30 Uhr von L 6 aufzubrechen, meistens bedingt durch die extreme Kälte vor Sonnenaufgang.
  • Magnesiumfackeln, eine Kerzenlaterne und eine elektrische Dynamo-Taschenlampe, die später im L 6 von 1924 gefunden wurden, sind ein deutlicher Hinweis, dass Mallory & Irvine ihren Aufstieg erst nach Sonnenaufgang begannen, als es bereits hell genug zum Sehen war.    Mondlicht hätte ihnen nicht geholfen, da der Mond bereits vor Mitternacht untergegangen war. Sonnenaufgang war am 8. Juni 1924 um 4.45 Uhr.

Die einzige Schlussfolgerung, die daraus gezogen werden kann, ist, dass Mallory & Irvine wahrscheinlich irgendwann zwischen 5 und 7 Uhr zum Gipfel aufbrachen.

Bis heute sind alle Spuren von Mallorys & Irvines Auf- oder Abstieg oberhalb von L 6 (mit Ausnahme von Mallorys Leiche) in einem rund 200 Meter langen Abschnitt des Nordostgrates zwischen dem Ausstieg aus dem Gelben Band auf 8440 m und dem Fuß der Ersten Stufe auf 8500 m gefunden worden.

Mallory & Irvine: Die Funde 1999 & 2001

Die gängige Interpretation der Spuren ist, dass eine – Sauerstoffflasche Nr. 9 – während des Aufstiegs abgelegt wurde, während die anderen beiden – Irvines Eispickel und ein vermutlich von 1924 stammender Wollfäustling – beim Abstieg zurückblieben.

Sauerstoffflasche Nr. 9 wurde erstmals 1991 von Eric Simonson gesichtet (wahrscheinlich zusammen mit einer zweiten Flasche) und schließlich am 17. Mail 1999 von Tap Richards erneut gefunden und geborgen.

 

Tap Richards und Eric Simonson mit Sauerstoffflasche Nr. 9
© Jochen Hemmleb

Die Ventilkonstruktion, Form und Größe wie auch der Stempel „E.O.C.“ („Everest Oxygen Cylinder“) identifizierten die Flasche zweifelsfrei als eine der britischen Expedition von 1924 – und damit von Mallory & Irvine, der einzigen Seilschaft, die 1924 Sauerstoff verwendete.

Die Stempel am Ventilansatz
© Rick Reanier/Jochen Hemmleb

Zudem ist Sauerstoffflasche Nr. 9 eine der fünf Flaschen, die Mallory auf einem Briefumschlag notiert hatte, der 1999 bei seiner Leiche gefunden wurde (siehe 3.3 und Bild 2).

Der Fundort der Flasche lag nach späterer Rekonstruktion in 170-180 m Horizontalentfernung vom Gipfel der Ersten Stufe (d.h. gratabwärts oder nordöstlich davon) auf einer Höhe von 8470-8475 m.

Es existiert aber eine gewisse Unsicherheit bezüglich des genauen Fundortes und der Fundumstände. Dave Hahn schien sich später zu erinnern, während des Aufstiegs am 17. Mai 1999 eine alte Sauerstoffflasche gesehen zu haben, die unterhalb des Ausstiegs aus dem Gelben Band aus dem Schnee ragte. Ein Sherpa hat diese Flasche aufgenommen und später weiter oben am Grat deponiert. Anhand der Aussagen von Hahn und Richards ist nicht vollständig zu klären, ob die von Hahn im Aufstieg gesehene Flasche die gleiche war, die später von Richards im Abstieg gefunden wurde – oder ob es sich bei letzterer um eine andere, zweite Flasche handelte.

Es besteht daher die Möglichkeit, dass der Fundort von Sauerstoffflasche Nr. 9 in Wahrheit bis zu 50 Höhenmeter tiefer lag, auf ca. 8420 m.

Mallorys Notizen auf dem Briefumschlag nach enthielt Flasche Nr. 9 110 Atmosphären Sauerstoff, also 11/12 des vollen Fülldrucks von 120 Atmosphären. Dies entspricht einer Menge von 490 Litern Sauerstoff.

Die von Ärzten 1924 empfohlene Durchflussmenge von Sauerstoff für einen Aufstieg oberhalb von L 6 lag bei 2-2,5 Litern pro Minute. In diesem Fall hätte die Füllmenge von Flasche Nr. 9 bei durchgehender Benutzung 196-245 Minuten gereicht (3h 15min – 4h).

Nimmt man an, dass Mallory & Irvine durchgehend Sauerstoff mit konstanter Durchflussmenge atmeten, dann bedeutet der Fundort von Sauerstoffflasche Nr. 9, dass Mallory & Irvine etwa 4 Stunden benötigten, um von L 6 (8140 m) bis zum Nordostgrat auf 8420-8470 m zu steigen. Aufgrund der vielen Unsicherheiten bei der angenommenen Aufbruchszeit von L 6 und dem genauen Fundort von Flasche Nr. 9 ist die optimistischste Interpretation, dass Mallory & Irvine gegen 8.30 Uhr nahe dem Fuß der Ersten Stufe angelangten (d.h. knapp hinter Mallorys Zeitplan, den er an John Noel geschrieben hatte; siehe 3.1). Sie könnten aber auch bedeutend später dort angekommen sein.

Wenn der Fundort, an dem Flasche Nr. 9 1999 geborgen wurde, tatsächlich mit dem Ort übereinstimmt, an dem sie 1924 zurückgelassen wurde, dann ist Sauerstoffflasche Nr. 9 bis heute die höchste Spur, die von Mallory & Irvine gefunden wurde.

Für ihren weiteren Aufstieg oberhalb dieses Punktes gibt es keinen weiteren konkreten Beleg.