Wo ist Andrew Irvine?

Es gibt derzeit (2018) drei angebliche Sichtungen der Leiche von Andrew Irvine, zwei davon durch Augenzeugen und eine durch eine Luftbildanalyse. Jedoch sind die Örtlichkeiten dieser Sichtungen jeweils verschieden und schließen sich daher gegenseitig aus.

Xu Jing (1960)

Der chinesische Everest-Veteran Xu Jing (1927-2011) gab an, gegen Ende der chinesischen Expedition von 1960 hoch oben am Everest-Nordostgrat einen alten Körper gesehen zu haben. Er machte diese Entdeckung während seines Abstiegs vom höchsten Lager auf 8510 m (Fuß der Ersten Stufe), nachdem er wegen Erschöpfung den Gipfelaufstieg abgebrochen hatte.Xu enthüllte seine Entdeckung erstmals 41 Jahre später im August 2001 während eines Interviews mit Eric Simonson und mir in Beijing. Es gibt allerdings einen Hinweis, dass zumindest einer von Xus Expeditionskollegen, Wang Fuzhou, von dem Fund wusste und davon 1965 in einem Vortrag in Leningrad berichtete.

Während unseres Interviews 2001 beschrieb Xu den Ort seines Fundes als “am Grat … in einer seichten Mulde am Grat”; als Höhe gab er zunächst “8200-8300 m” an, korrigierte diese jedoch später auf “8300-8400 m”. Über die Lage und den Zustand des Körpers sagte er, “er lag ausgestreckt auf einem Schlafsack, der komplett verrottet war”. Zudem beschrieb er den Körper als “völlig schwarz”, was auf erfrorene Haut hindeutete.

In Zusammenhang mit späteren Interviews ist wichtig zu erwähnen, dass Xu das höchste Lager seiner Expedition zwischen der Ersten und Zweiten Stufe platzierte, als wir ihn baten, die Lokalitäten auf einem Foto des oberen Nordostgrats zu zeigen. Der Körper lag etwas unterhalb des Lagers. Aufgrund der Expeditionsberichte, die durch Jake Nortons Entdeckungen 2001 und 2004 bestätigt wurden, geht eindeutig hervor, dass sich Xu Jing hier irrte – wie bereits erwähnt befand sich das höchste Lager 1960 am Fuß der Ersten Stufe, woraus sich ableiten läßt, dass sich der Körper am Grat unterhalb der Ersten Stufe befand.

Als ich Xu Jing 2008 abermals interviewte, wiederholte er im Prinzip dieselben Informationen, die er uns sieben Jahre zuvor gegeben hatte – inklusive des Fehlers hinsichtlich der Position des höchsten Lagers von 1960 (!). Er beschri eb den Fundort des Körpers als Höhle oder schützenden Vorsprung am Grat, etwas links und oberhalb der Aufstiegsroute. Dies entspräche einer Höhe von 8400-8440 m. Der Körper lag in einem Schlafsack, nur der Kopf schaute heraus. Die Haut am Kopf war schwarz und “dünn”, d.h. mumifiziert.

Xu Jing wurde außerdem 2003 von Noah Smith von der Londoner Zeitung The Sunday Times interviewt, und 12005 von der Internetseite EverestNews. Im Interview mit der Sunday Times gab Xu die Höhe des Körpers als “zwischen 8200-8300 m” an und beschrieb den Fundort als “Spalte, etwa 1 m weit, mit steilen Klippen zu beiden Seiten”. “Der Körper lag in einem Schlafsack, der Schlafsack war verrottet … Es war mit Sicherheit ein Schlafsack, es lagen Federn darum herum, Daunen. Der Körper war unversehrt, doch die Haut war geschwärzt.”

In deutlichem Unterschied dazu schrieb dagegen der Reporter von EverestNews, Xu Jing habe “definitiv den Körper gesehen, und dies war zwischen der Ersten und Zweiten Stufe” (was einer Hhe von ca. 8570 m entsprochen hätte). Er zitierte Xu: “Der Körper lag auf der Seite (sic), ein gutes Stück von der Ersten Stufe entfernt am Grat.” Der Reporter schrieb außerdem, Xu hätte verneint, einen Schlafsack unter oder um den Körper gesehen zu haben.

Da Xu sowohl 2001 wie auch 2008 die Lage des höchsten Lagers von 1960 falsch beschrieben hatte (und damit auch den daraus resultierenden Fundort des Körpers), spricht vieles dafür, dass er im Interview mit EverestNews 2005 dasselbe getan und der Reporter diese Aussage unhinterfragt wiedergegeben hatte. Aufgrund der bekannten Lage des höchsten Lagers von 1960 und anderer Fakten (z.B. dass Xu Jing nicht höher als bis zur Ersten Stufe gestiegen war), kann geschlossen werden, dass sich der von Xu Jing 1960 entdeckte Körper auf oder nahe der Schneide des Nordostgrats unterhalb der Ersten Stufe befand.

Jake Norton kletterte 2004 auf der Normalroute von Lager VI zur Schneide des Nordostgrats auf ca. 8440 m, wo er zuvor einen alten Wollhandschuh unbekannter Herkunft gefunden hatte. Von dort folgte er dem Grat nach links etwa 100 Meter weit, fand jedoch nichts. Dieses Gebiet wurde 2010 erneut von meinem Suchteam abgegangen und 2011 um weitere 150 Meter in Richtung Nordostschulter ausgedehnt, ebenfalls ohne Erfolg. Die Suchen 2010/11 wurden durch teilweise tiefen Schnee am Grat behindert.

Chhiring Dorje (1995)

EverestNews berichtete außerdem, ein anderer Bergsteiger, der zwischenzeitlich als der Sherpa Chhiring Dorje identifiziert wurde, habe 1995 auf einem Schneefeld hoch oben am Everest einen “sehr alten Körper” in “armeefarbener Kleidung” gefunden. Der Körper lag mit angezogenen Knien auf der Seite, so als schliefe er. Er lag “auf einer Menge Schnee” an einer sehr ausgesetzten Stelle, “von der aus es gefährlich gewesen wäre, weiterzugehen.” EverestNews zitiert Chhiring: “Was immer von dort abstürzt, kommt erst auf 6000 Meter oder noch tiefer zum Liegen… Die Falllinie von dort ist ununterbrochen, ohne jedes Hindernis.” Der Ort sei auf “über 8400 Meter” gewesen.

Es ist bekannt, dass Chhiring Dorje während der Expedition 1995 nicht über 8500 m hinausging, einem damaligen Lager VII am Fuß der Ersten Stufe. Als das Suchteam von EverestNews die Stelle aufsuchte, an der Chhiring den Körper gefunden hatte, fanden sie diesen nicht wieder. Stattdessen entdeckten sie dort “eine alte Sauerstoffflasche aus den 20er- oder 30er-Jahren”. Die Flasche wurde später als eine der britischen Expedition von 1938 identifiziert.

Allerdings lag der höchste Punkt der Expedition von 1938 knapp oberhalb und etwas rechts der Schulter am oberen Ende des Nordgrats auf ca. 8320 m – was deutlich von der Höhe “über 8400 Meter” abweicht, welche auf einen Ort am Nordostgrat hinweisen würde.

Da die Sauerstoffflasche von 1938 nicht mit dem Körper in Zusammenhang stand, bei dem es sich vermutlich um Irvine handelte (1924), nahm ich in meinem Buch Tatort Mount Everest (S. 230f.) an, dass Chhiring ihn tatsächlich an dem höher gelegenen Ort gefunden hatte und er damit mit der 35 Jahre zuvor erfolgten Entdeckung von Xu Jing übereinstimmte.

Im Unterschied dazu schloss EverestNews weiterhin, dass der Körper weiter unten gefunden worden war und dass Irvines Leiche nach 1995 von dort auf den Ost-Rongbukgletscher gestürzt war, was erklärte, warum der Körper 2004 verschwunden war. Darüber hinaus glaubt der Leiter von Chhiring Dorjes Expedition 1995, der Japaner Kiyoshi Furuno, nicht an einen Fund am Nordostgrat, da dort andere Expeditionsteilnehmer den Körper ebenfalls gesehen haben müssten. Laut Furuno konnte Chhiring den Körper nur bei einem Abstieg über den Nordgrat zum Nordsattel gefunden haben.

Luftbildanalyse Tom Holzel (2010)

Der Pionier der Mallory-Forschung, Tom Holzel, lieferte 2010 einen dritten möglichen Fundort von Andrew Irvine. Holzel hatte dazu großformatige Dias der 1984 erfolgten Luftbildkartierung des Everest erworben und das Gebiet um das Gelbe Band zwischen 8300 m und der Ersten Stufe hochauflösend gescannt. Ein Vergleich des großmaßstäbigen (1:270) Ausdrucks mit einem Foto der Expedition von 1933 ließ ihn vermuten, dass der Fundort von Irvines Eispickel in Wahrheit 40 Meter weiter nordöstlich (gratabwärts) als bislang verzeichnet gelegen hatte. Da Xu Jing in seinem Interview mit der Sunday Times 2003 angegeben hatte, er habe „auf dem Weg nach unten eine direktere Route“ genommen, konzentrierte sich Holzel bei seiner Suche auf einen kürzeren Abstiegsweg von der Ersten Stufe.

Unterhalb des veränderten Eispickelfundortes stieß er auf ein ungewöhnliches Objekt in der Form eines Schlafsacks mit einem Körper darin. Es lag nahe einer Rinne, die durch das Gelbe Band nach unten führte. Eine weitere Untersuchung des Fotos enthüllte eine spaltartige Struktur im weiteren Verlauf der Rinne, an deren oberen Ende sich ein langgestrecktes Objekt von etwa zwei Metern Länge befand (dabei sei an Xu Jings Beschreibung des Fundorts als “Spalte, etwa 1 m weit, mit steilen Klippen zu beiden Seiten” erinnert).

Ein Fundort des Körpers im Gelben Band zwischen ca. 8410-8430 m liegt zwar an einer möglichen Abstiegsroute von der Ersten Stufe, steht aber in Widerspruch zu Xu Jings wiederholter Aussage, der Körper habe an oder nahe der Schneide des Nordostgrats gelegen. Zudem befinden sich die beiden von Holzel entdeckten Objekte in unmittelbarer Nähe der Rinne, durch die 1933 Eric Shipton und Frank Smythe aufgestiegen waren. Dabei war ihnen nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Jahe Norton hatte 2004 den Ort des unteren Objektes erreicht, ebenfalls ohne dort etwas zu finden.