Der Aufstieg von Mallory & Irvine oberhalb von 8500 m
Nachdem sie ihr erstes Paar Sauerstoffflaschen leergeatmet und abgelegt hatten, standen Mallory & Irvine vor eine Schlüsselentscheidung über ihren weiteren Aufstiegsweg:
- Sie konnten entlang der Oberkante des Gelben Bandes queren und auf diese Weise die Erste Stufe unterhalb umgehen. Erfahrungen späterer Seilschaften haben gezeigt, dass es zumindest sehr schwierig ist, jenseits der Ersten Stufe wieder zum Nordostgrat aufzusteigen. Eine Seilschaft auf dieser Umgehungsroute ist nahezu gezwungen, die Querung bis in das Große Couloir fortzusetzen.
- Sie konnten die Erste Stufe überklettern – entweder entlang des Grates oder durch die offene Rinne in ihrer Nordwand (die heutige Normalroute) – und dem Grat weiter in Richtung Zweiter Stufe folgen.
Um 12.50 Uhr mittags beobachtete Noel Odell die beiden Bergsteiger dabei, wie sie eine der hervortretenden Felsstufen am oberen Nordostgrat überkletterten.
Odells Sichtung wird ausgiebig in der Bergliteratur behandelt und diskutiert (z.B. in meinen Büchern Detectives on Everest, S. 120-123, und Tatort Mount Everest, S. 112-123), weshalb die Debatte hier nicht wiederholt wird.
Geht man davon aus, dass die Essenz von Odells Sichtung zutraf – d.h. er hatte tatsächlich beide Bergsteiger gesehen und nicht halluziniert oder war einer optischen Täuschung erlegen (was Odell Zeit seines Lebens vehement bestritt) -, wird seine Sichtung inzwischen auf zwei grundlegende Weisen interpretiert:
- Odell sah Mallory & Irvine im Aufstieg. Sie hatten sich zum Aufstieg über den Nordostgrat entschieden und überkletterten um 12.50 Uhr entweder die Erste oder Zweite (oder sogar die Dritte) Stufe.
- Odell sah Mallory & Irvine im Abstieg. Im Aufstieg hatten sie die Erste Stufe umgangen und waren danach bei dem Versuch gescheitert, entweder erneut zum Nordostgrat aufzusteigen oder das Große Couloir zu queren. Auf ihrem Rückzug kletterten sie zur Erkundung zum Gipfel der Ersten Stufe und wurden um 12.50 Uhr dabei beobachtet.
Ohne eine konkrete Spur von Mallorys & Irvines weiteren Aufstiegs oberhalb des Fundortes von Sauerstoffflasche Nr. 9 haben beide Theorien gleiches Gewicht. Jedoch lassen mich die Indizien die Interpretation bevorzugen, dass sich Mallory & Irvine zum Zeitpunkt von Odells Sichtung noch immer im Aufstieg befanden – und sie nicht an der Ersten Stufe waren.
Die Gründe dafür sind folgende:
- Odells Tagebucheintrag, der innerhalb der ersten sechs Tage nach seiner Sichtung geschrieben wurde, lautet einfach bloß:
“At 12.50 saw M. & I on ridge nearing base of final pyramid. –
Sah M. & I. um 12.50, wie sie sich dem Fuß der Gipfelpyramide näherten.”
>Dies deutet stark auf einen Ort an oder oberhalb der Zweiten Stufe hin.
- In seinen gesamten Berichten, die er 1924 schrieb, blieb Odell davon überzeugt, dass er Mallory & Irvine an der Zweiten Stufe gesichtet hatte. Erst im 1925 erschienenen Expeditionsbuch hatten ihn Zweifel gepackt – und mit diesen schloss er nicht länger aus, dass er die Bergsteiger an der tiefer gelegenen Ersten Stufe gesichtet hatte.
Tom Holzel und Audrey Salkeld schrieben dazu in ihrem Pionierwerk (S. 249):
“The main reason Odell would cling so tenaciously to the key elements of his vision … is because he cannot do anything else: that is how it was. To have it otherwise, he would need to invent. The inconsistencies in his account only began to creep in when he felt compelled to change the location of his sighting.”
„Der Hauptgrund, warum Odell so fest an den wesentlichen Elementen seiner Sichtung festhielt, ist … weil er nicht anders kann: So war es gewesen. Etwas anderes zu behaupten, würde für ihn bedeuten, er müsse etwas erfinden. Die Ungereimtheiten in seinem Bericht schlichen sich erst ein, als er sich dazu gezwungen fühlte, den Ort seiner Sichtung zu ändern.
- Die in Odells Bericht beschriebene Topografie stimmt nicht mit der Ersten Stufe überein. Odell schilderte, wie einer der Bergsteiger „auf der Spitze der Stufe“ auftauchte, während die tatsächliche Spitze der Ersten Stufe auf keiner der Routen überschritten wird, auf denen das Hindernis umgangen oder überklettert wird. Alle umgehen den letzten Turm der Stufe.
Der letzte Punkt ist offensichtlich der schwächste der Argumentation, da die von Odell beschriebene Topografie auch nicht auf die Zweite Stufe passt. Odell schildert, wie die Bergsteiger über einen „Schneefleck“ aufsteigen. Es existiert ein auffälliger Schneefleck am Fuß der Ersten Stufe, während der Schneefleck in halber Höhe der Zweiten Stufe vergleichsweise klein ist und zur meisten Zeit des Tages im Schatten liegt – es ist kein offensichtlicher Ort, um zwei Bergsteiger auszumachen. Auch deuten Odells Berichte nicht an, dass sich die Bergsteiger gesichert oder unterstütz hätten, wie man es an einer anscheinend so schwierigen Stelle wie der Zweiten Stufe erwarten würde.
Aus diesen Gründen hielt ich es lange Zeit für möglich, dass Odell Mallory & Irvine an der Dritten Stufe gesichtet hatte (eine Theorie, die erstmals 1981 von Walt Unsworth in seiner Everest-Monografie aufgestellt wurde; S. 138). Und nach meinen eigenen Beobachtungen von Bergsteigern an dieser Stufe 1999 bin ich weiterhin verblüfft, wie überraschend genau sie sich mit Odells Beschreibung deckten (siehe meine Bücher Ghosts of Everest, S. 151; Detectives on Everest, S. 122, und Tatort Mount Everest, S. 121ff.). Jedoch hat sich meine Meinung inzwischen geändert.