Expeditionsmüll („Alternative Fakten“)
Ein leidiges Thema: Im Nachfeld der Entdeckung George Mallorys 1999 sind von einigen Autoren diverse Behauptungen aufgestellt worden (und werden teilweise bis heute verbreitet), die in der heutigen Zeit wohl als „postfaktisch“ oder „alternative Fakten“ bezeichnet werden dürften. So findet sich z.B. in dem Buch Mount Everest – Expedition zum Endpunkt von Reinhold Messner (BLV, 2003, S. 216) folgendes Schmankerl:
„Wenn der Expeditionsleiter und der ‚Historiker’ des Unternehmens später behaupten, Anker sei in ihrem Auftrag an die Fundstelle gegangen und habe den ‚Second Step’ frei geklettert, […] verfälschen sie die Fakten mit Absicht.“
Die in einer späteren Auflage nachgelegte Nettigkeit, ich sei „besessen von Vorurteilen“ mag dem guten Mann ja noch halbwegs nachgesehen werden – denn im Grunde genommen hat er ja Recht: Ich liebe Vorurteile, liebe es, sie zu hinterfragen und ggf. zu widerlegen.
Wobei das Vorurteil, große Bergsteiger seien automatisch auch große Menschen, Messner selbst widerlegt hat. Mehrfach. Und überzeugend.
Aber zu den Fakten (ohne „post-“ und „alternativ“):
Die Vorbereitung der Suche 1999
In Vorbereitung der Suche sind von mir zwei Dokumente zusammengestellt worden, welche unter den Expeditionsteilnehmern zirkulierten: ein Auszug aus meiner Reihe von Essays zu Mallory und Irvine, in denen die Fotoanalyse erläutert wird, nach welcher das Suchgebiet eingegrenzt wurde; und ein „Research Manual“, eine 5-seitige, vereinfachte Zusammenfassung für die Verwendung am Berg.
Nach der Fotoanalyse befand sich das Lager, von wo aus Wang Hongbao 1975 einen „englischen Toten“ gefunden hatte, auf ca. 8220 m (± 20 m). Vom Ort des Lagers rekonstruierte ich eine horizontale Querung (parallel zur 8220 m Höhenlinie) bis zum Kreuzungspunkt mit der Falllinie vom Fundort der Eispickels 1933. Dies war der gedachte Mittelpunkt des Suchgebiets, da angenommen werden konnte, dass der Tote und der Eispickel in unmittelbarem Zusammenhang standen.
Der Standort des chinesischen Lagers von 1975 und der Eispickelfundort von 1933 waren die einzigen Referenzpunkte, auf die man bis zu unserer Expedition 1999 eine Suche beziehen konnte.
Es stimmt, dass der abgeleitete Mittelpunkt des Suchgebiets nicht mit dem späteren Fundort Mallorys übereinstimmt. Er ist höher und weiter westlich (vom Basislager aus gesehen rechts), die horizontale Distanz zwischen beiden Punkten beträgt 100 m.
Da mir die unterschiedlichen Interpretationen des Eispickelfundes geläufig waren, qualifizierte ich in meinem Bericht die Aussage über das Suchgebiet:
„Selbst wenn kein Zusammenhang zwischen dem Eispickel und dem Körper besteht, sollte sich der Körper in 10 Minuten Laufdistanz (oder einem Radius von 250 m) vom Lager VI von 1975 befinden. Meiner Meinung nach dürfte der Körper südwestlich des Lagers liegen, d.h. in Falllinie des Eispickelfundorts.“
Mallorys Leiche fand sich 200 Meter vom abgeleiteten Standort des chinesischen Lagers entfernt in südwestlicher Richtung.
Die Suche am 1. Mai 1999 aus Sicht des Basislagers
Aus logistischen Gründen stieg die Suchmannschaft nicht auf direktem Weg von Lager V ins Suchgebiet, sondern zuerst zum geplanten Standort unseres Lagers VI. Dieses lag auf etwa halber Strecke zwischen dem Nordgrat und dem chinesischen Lager VI von 1975. Dessen abgeleitete Position war 150 m weiter westlich und ca. 15 m höher.
Die Suchmannschaft erreichte das Suchgebiet in einer ansteigenden Querung aus Lager VI. Diese Querung lag oberhalb der abgeleiteten Position des chinesischen Lagers. (Dies belegen Filme, auf denen die Suchmannschaft bereits über gelbbraunes Geröll aus dem Gelben Band quert, während die Position des chinesischen Lagers noch im unterlagernden braunen Schiefer lag).
Warum ich an diesem Punkt nicht intervenierte? Die Antwort ist einfach: Es gibt so etwas wie „Vertrauen in die Kompetenzen anderer“. Ich wusste, dass wir ein starkes, erfahrenes Suchteam hatte und vertraute dessen Entscheidungen dort oben. So schrieb ich es auch später (siehe Geister des Mount Everest, S. 116).
Die Suchmannschaft erreichte die schwach ausgeprägte Felsrippe, welche das Becken unter dem Eispickelfundort östlich (links) begrenzt, auf einer Höhe von 8240-8250 m. Dort fand Jake Norton eine blaue Sauerstoffflasche von der chinesischen Expedition 1975, welche uns anzeigte, dass die Suchmannschaft auf dem richtigen Weg war.
Ankers Behauptung (American Alpine Journal, 42, 2000, S. 376), ich hätte dies für den Ort des chinesischen Lagers gehalten und somit seine Position inkorrekt bestimmt, ist schlichtweg falsch: die Sauerstoffflasche war ein Hinweis auf die Nähe des Lagers, nicht auf das Lager selbst, und so schrieb ich es auch (Geister des Mount Everest, S. 116).
Die Ironie dieser Ereignisse wurde uns zwei Jahre später bewusst, als wir das chinesische Lager VI von 1975 fanden und eindeutig identifizierten. Es lag unterhalb der abgeleiteten Position, auf 8170 m, etwa 140 m von Mallory entfernt und nur wenig (15 m) höher. Wäre die Suchmannschaft 1999 tiefer gequert, wäre sie zunächst auf das Lager gestoßen und bei ihrer weiteren Querung innerhalb kurzer Zeit auf Mallory. Ob einige „alternative Fakten“ dann nicht verbreitet worden wären, sei dahingestellt. Tatsache ist, die Suchmannschaft 1999 erreichte weder den abgeleiteten noch den tatsächlichen Ort des chinesischen Lagers. Ihrer Route querte oberhalb beider Punkte.
Die verschiedenen Areale, welche anschließend von den einzelnen Mitgliedern der Suchmannschaft abgesucht wurden, waren wie folgt: Dave Hahn blieb nahe der Felsrippe und stieg in Richtung der tatsächlichen Position des chinesischen Lagers ab, erreichte es allerdings nicht. Richards und Norton untersuchten den breiten Trichter rechts der Felsrippe. Politz stieg hinauf zum oberen Rand des Beckens, bis in die Felsen des Gelben Bands. Anker stieg hinab zum unteren Rand des Beckens, wo es in einer Reihe von Klippen abbricht.
Gegen 11.20 Uhr sichtete Conrad Anker einen ersten Toten und funkte dies ins Basislager (die Zeiten wurden während der Teleskopbeobachtungen notiert) – der „Greeter“ (wegen eines abstehenden Arms), wahrscheinlich der 1998 verschollene Russe Sergei Arsentiev.
Zehn Minuten später, gegen 11.30 Uhr, stieß Tap Richards auf einen weiteren Toten mit rot-weiß-blauer Daunenbekleidung und Steigeisen mit Riemenbindung. Aufgrund der Kleiderfarbe und alten Ausrüstung identifizierte ich den Toten über Funk vorläufig als den 1975 abgestürzten Chinesen Wu Zongyue.
Anschließend fand dann folgendes Funkgespräch statt, welches später im Internet veröffentlicht wurde (Clark, L. „The Day Mallory was found“, NOVA Online, www.pbs.org/wgbh/nova/everest, 17. Januar 2000):
Anker: „Ich werde diese direkte Falllinie untersuchen. Over“
Richards: „An Conrad und alle. Ich bin ebenfalls in der Falllinie hier. Ich habe zwei andere Personen gefunden. Schaut so aus, als wären sie definitiv abgestürzt. Die Falllinie in Verbindung mit dem Eispickelfundort ist der Schlüssel. Over.“
Hemmleb: „Ich könnte annehmen, dass das, was wir suchen, tiefer liegt. Da ich euch im Moment aber nicht durch das Teleskop sehen kann, bin ich mir nicht ganz sicher. Sucht weiter. Over.“ (Hervorhebung JH)
Wu Zongyue wurde bereits 1980 von japanischen Bergsteigern gefunden. Da Lagerpositionen und Routen der Japaner bekannt waren, nahm ich an, dass der Körper von Wu oberhalb von Wang Hongbaos „englischen Toten“ liegen musste. Daher mein Funkspruch: „Ich könnte annehmen, dass das, was wir suchen, tiefer liegt.“
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Tap Richards und Jake Norton bereits im Abstieg durch die breite Rinne mit Mallorys späterem Fundort, etwa 120 Meter entfernt und 70 Meter höher. Hätte Anker, welcher das untere Ende der Rinne von SW (rechts) her querend erreichte, Mallory nicht gefunden, wären Richards oder Norton wenig später mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den Toten gestoßen.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Zwei Bergsteiger befinden sich 70 Meter oberhalb von Mallorys Fundort. Sie sind bereits im Abstieg und in die richtige Richtung unterwegs – und aus dem Basislager kommt die Bestätigung, tiefer zu suchen.
Bei Messner liest sich dieser Sachverhalt dann so: „Conrad Anker wurde dort fündig, wo Hemmleb nicht suchen lies.“ (Leserbrief an Journal Frankfurt, 4/2000). „Conrad Anker findet, weitab vom festgelegten Suchgebiet, […] Mallory.“ (Mount Everest – Expedition zum Endpunkt, S. 216).
Messners zweite Behauptung, Eric Simonson und ich hätten behauptet, Conrad Anker hätte die Zweite Stufe frei geklettert, ist sogar noch leichter zu widerlegen: Zitat aus meinem Buch Die Geister des Mount Everest, S. 149, zu Ankers Durchsteigung: „An einem guten Griff für die rechte Hand zog er den Körper nach, setzte kurz seinen Fuß auf eine Leitersprosse, welche die gute Leiste verdeckte, und erreichte wenige Augenblicke später den Gipfel der Zweiten Stufe.“
Die Benutzung der Leitersprosse, also eine nicht-freie Begehung, ist explizit erwähnt.
Dagegen findet sich im Klappentext der amerikanischen Originalausgabe von Conrad Ankers Buch The Lost Explorer (geschrieben mit David Roberts) der Satz: „Seventeen days later [nach der Entdeckung Mallorys] Anker free-climbed the Second Step“ … (Hervorhebung JH)
Wer verfälscht hier also Fakten, Herr Messner?
Aber vielleicht muss man auch in diesen Dingen bei dem guten Mann Nachsicht walten lassen – denn die Aussicht aus seiner Burg, wo er sich vermutlich am 1. Mai 1999 aufhielt, ist zwar schön, reicht aber definitiv nicht bis zum Mount Everest.
Da sich Messner gerne selbst als „Historiker“ präsentiert und nach „journalistischer Sorgfalt“ ruft, sei abschließend ein Blick auf seinen eigenen Umgang mit historischen Fakten erlaubt:
Vom Umgang mit historischen Fakten in Reinhold Messners Mallorys zweiter Tod oder: Geschichte ist Auslegungssache …
(verfasst im Oktober 1999)
Messners Alleinbesteigung des Everest über die Nordflanke ohne Sauerstoff 1980 steht in der reichen Geschichte der Everest-Nordseite zweifellos einzigartig da. Und so ist es nicht verwunderlich, vielleicht gar unvermeidlich, dass sich Messner nun zum vorläufig letzten Kapitel dieser Geschichte äußert – dem Fund von George Mallory im Mai 1999.
Messner tut dies auf über 200 Seiten in seinem neuen Buch, Mallorys zweiter Tod (BLV). Doch um es gleich klarzustellen: Nur etwa 20% des neuen Buches sind von Messner selbst, der Rest besteht ausschließlich aus Zitaten der reichhaltigen Everest-Literatur. Und in diesen 20% bedient er sich clever der „Stimme“ des verschollenen und wieder gefundenen Mallory.
Die Worte, welche Messner bereits auf den ersten Seiten dem Pionier in den Mund legt, sind wegweisend für das gesamte Buch – und müssten jedem einzelnen Mitglied der Mallory & Irvine Research Expedition (inklusive mir selber) die Zornesröte ins Gesicht treiben: Da werden den Mitgliedern Motivationen und Gesinnungen angedichtet, die niemals geäußert wurden; da wird von Ereignissen erzählt, die niemals stattgefunden haben oder zumindest nirgendwo so verzeichnet sind usw. Doch am besten vielleicht einige Beispiele:
Zum Ergebnis der Mallory & Irvine Research Expedition: „…was die Forscher suggerieren: Das Rätsel sei gelöst“ (S. 15) „…man hat mich schon lange zum Gipfelsieger degradiert… (S. 25) „…die Behauptung, ich hätte die Spitze des Mount Everest erreicht.“ (S. 27) Woher nimmt Messner diese Behauptungen? Woraus zitiert er? Kein Mitglied unserer Expedition – auch ich nicht – hat unmittelbar nach der Rückkehr behauptet, wir hätten das Rätsel gelöst oder Mallory und Irvine hätten den Gipfel erreicht. Wir haben nur behauptet, dass sie es geschafft haben könnten – und der Expeditionsbericht führt Schritt für Schritt aus, was für ein Scheitern, was dagegen, was für einen Erfolg und was dagegen spricht. Wir verkaufen hier keine Sensation sondern legen nur verschiedene mögliche Szenarien dar, begründen sie und ziehen Schlussfolgerungen. Eine derartige genaue Analyse bleibt Messner dem Leser das gesamte Buch über schuldig.
Über Ereignisse während der Suche: „…da wurde gekeucht und geschimpft, gerotzt und geflucht. Ich konnte nur lachen über den Aufschrei, als einer ein schwarzes Stück Fels und nicht die Kodak-Kamera in den Händen hielt.“ (S. 26) Bei diesem reichlich dilettantischen Versuch, die Suche und die daran beteiligten Personen ins Lächerliche zu ziehen, berichtet Messner/Mallory von einem Ereignis, das so nie stattgefunden hat bzw. nirgendwo so verzeichnet ist, sondern rein der blühenden Fantasie Messners entsprungen ist. Doch er berichtet, als wäre er selbst dabei gewesen. Unsere Suchmannschaft hat dort oben einiges gefunden und gesehen – Reinhold Messner allerdings nicht.
Über die Gefühläußerungen der Suchmannschaft nach ihrem Fund lässt Messner Mallory sagen: „Mich ekelt vor so viel Ehrerweisung. Und diese Heuchelei!“ Ich selber – im Gegensatz zu Mallory lebendig und daher weniger vor dem Problem stehend, mir Worte in den Mund legen lassen zu müssen – sage über Messners Ausführungen: „…und mich ekelt vor so viel Unsachlichkeit. Und diese unseriöse Berichterstattung !“
Überhaupt nimmt es Messner in seinem Buch mit historischer Berichterstattung nicht sehr genau: Da werden blind Routenskizzen aus dem Stern und Der Spiegel übernommen, ohne die darin enthaltenen Fehler zu korrigieren oder zu vermerken (S. 22 und 72). Da wird eine Routenskizze aus dem Jahre 1924 aufgeführt, die als Ort der letzten Sichtung Mallorys und Irvines die Zweite Stufe nennt, obwohl Messner beweisen will, dass gerade dies nicht möglich gewesen sein kann (S. 30). Quellennachweise für Zitate fehlen fast völlig, ebenso einige wichtige Literatur zu Mallory (z.B. Holzel & Salkeld, The Mystery of Mallory and Irvine oder die verschiedenen Biographien Mallorys).
Anstatt Odells Bericht seiner letzten Sichtung Mallorys und Irvines einmal genauer unter die Lupe zu nehmen – und damit meine ich nicht Odells Äußerungen in Gesprächen mit Messner mehr als 60 Jahre nach den eigentlichen Geschehnissen -, qualifiziert ihn Messner mit simplen Generalisierungen ab: „…wie viel von seiner Sichtung war Hoffnung, wie viel Rechtfertigung, wie viel Trost? Die Höhe narrt uns doch alle, und schon aus einer Distanz von einem Kilometer beruhen solche Beobachtungen auf Lichtreflexen… In solchen Höhen sind Halluzinationen keine Seltenheit, und er hat sich ja gewünscht zu sehen, was er dann zu sehen glaubte.“ Wie herrlich suggestiv – und praktischerweise ohne jeden unmittelbaren Gegenbeweis. Aber auch ohne jeden Beleg. Und wenn sich Messner schon solcher Generalisierungen bedient, kann man dies nicht geradezu als Einladung verstehen, dieselben Kriterien an Messners eigene Berichte und Beobachtungen zu legen? (Verzeihung, nun bin ich suggestiv…) Die Höhe narrt uns alle… Unser Expeditionsbericht legt ausführlich dar, was man dort oben wirklich sehen und nicht sehen kann, was wirklich für und gegen Odell spricht.
Ein weiteres Beispiel für die historische Berichterstattung Messners, der laut Klappentext „den höchsten Berg der Welt und seine Geschichte besser kennt als jeder andere“: Über die lange umstrittene chinesische Expedition von 1960 lässt er Mallory sagen: „Wenn sie aber am Second Step stecken bleiben, so wie ich stecken geblieben bin, ist das zwar kein Grund zur Panik, aber Betrug. Warum erzählen sie später von Holzpflöcken und Seilresten, die sie über der letzten Steilstufe gefunden haben wollen?“
Messner dürfte einer der wenigen Personen sein, die weiterhin das Gerücht um diesen Fund aufgreift und dazu nutzt, den chinesischen Bericht zu diskreditieren. Dabei braucht es dies gar nicht: Bereits in einer der ersten Quellen dieses Berichtes (American Alpine Journal, 1983) wird darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Information um einen Übersetzungsfehler des Dolmetschers handelte und die von den Chinesen angegebenen Höhen und Positionen auf einen Fund am Standort des Lagers VI von 1933 hindeuteten. So steht es auch im jüngsten Werk über die Geschichte des Bergsteigens in China (History of Mountaineering in China, Han Kou: Wuhan Publishing House, 1993) – und das von den Chinesen gefundene Material wurde von unserer Gipfelseilschaft an exakt gleicher Stelle wiederentdeckt.
Wenn Messner tatsächlich Dokumente besitzt, die – wie behauptet – „belegen, dass die Chinesen 1960 an der Zweiten Stufe gescheitert sind“ (Der Spiegel, 10. Mai 1999), warum hat er sie dann nicht längst in einem seiner Bücher der Öffentlichkeit vorgelegt, aus ihnen zitiert und sie als Quelle aufgeführt? Und wie erklärt sich Messner dann bitte ein Foto aus dem chinesischen Film von 1960, das die Dritte Stufe und die Gipfelpyramide zeigt und eindeutig von oberhalb der Zweiten Stufe aufgenommen wurde? In den ersten Berichten der Chinesen finden sich zudem topographische Details, die sich mit den letzten 250 Metern des Gipfeltiegs von Norden decken – einen direkten Beweis für die Besteigung gibt es darüber hinaus jedoch nicht.
Was Messners eigene Everest-Besteigung 1980 angeht, so würde ich mich zwar gerne mit der Ehre schmücken, bei der Auswahl des Suchgebietes seinen damaligen „Ahnungen“ (S. 209) gefolgt zu sein. Doch diese Ehre gebührt Tom Holzel, welcher dieses Gebiet schon neun Jahre vor Messner ins Auge gefasst hatte (Mountain, 17, 1971).Selbst Messner gibt zu, 1980 am Everest „etwas“ gelesen zu haben, was seine spätere „Ahnung“ stützte – allerdings einmal mehr ohne Quellenangabe. Und wenn man schon eine reichlich überflüssige Debatte beginnt, wer nun die „Ahnung“ des Suchgebiets hatte, so gebührt diese Ehre Frank Smythe, der davon in seinem Buch Camp Six schrieb – und das war 1937.
Die Berichterstattung über unsere Mallory & Irvine Research Expedition und über die chinesische Expedition von 1960 sind die zwei schlagendsten Beispiele dafür, wie Messner tatsächlich berichtet: Statt wirklich neue Erkenntnisse präsentiert er altes und überholtes Material, statt wirklicher Zeugenaussagen versteigt er sich in Spekulationen über Gesinnungen und Motivationen der Zeugen.
Damit sagt dieses Buch am Ende vielleicht mehr über Messner selbst aus als über Mallory.